Alles, was ich schon weiß

Das Optimierte Erschließen

Niemand fängt bei Null an, wenn er einer neuen Sprache begegnet. Das gilt keineswegs nur für diejenigen, die mit mehr als einer Sprache aufgewachsen sind, sondern auch für alle anderen, die (nur) in der Schule weitere Sprachen gelernt haben. Mit dem Wissen und Können in den Sprachen, die man bereits „im Kopf“ hat, verfügt man über ein großes Wissensreservoir. Dazu gehört auch das Wissen über diese Sprachen und über ihr Funktionieren. Das alles kann man gezielt nutzen, um Texte in unbekannten Sprachen zu erschließen.

Teste doch einmal das sog. Logikkalkül, d. h., probiere aus, wie du dein Wissen über das Funktionieren einer Sprache einsetzen kannst:

Kalusen watunteln.

Wilusch ist Kaluse.

Wer watuntelt, der semantelt.

Semantelt Wilusch?

Calusians wingle.

Wango is Calusian.

Anyone who wingles semantles.

Does Wango semantle?

Les choufs sémantisent.

Mirate est une chouve gouape.

Qui sémantise, mouge.

Mirate mouge-t-elle ?

 

Schau dir die verschiedenen Versionen des Texts an.

Semantelt Wilusch? Does Wango semantle? Und was ist mit Mirate, est-ce qu'elle mouge ?

Wie lautet die richtige Antwort?  Findest du es heraus?

Auch wenn du die einzelnen Wörter vielleicht nicht "verstehst", kannst du die Fragen beantworten. Überlege: Welche Elemente  kannst du (wieder)erkennen? Woran erkennst du, um welche Sprachen es sich handelt?

Denke darüber nach, wieso du die Fragen beantworten kannst und wie du vorgegangen bist.

Hier ein Tipp:
Hat man in einem Satz z. B. die Wortart oder die grammatische Funktion eines Elements erkannt, aber noch nicht dessen Bedeutung, kann man es zunächst mit einem Phantasiewort ersetzen und versuchen, erst einmal den übrigen Satz zu erschließen. Also „irgendsoein“, wenn man ein Adjektiv erkannt hat, ein „Dingsda“ oder ein „irgendwas", wenn man ein Substantiv, evtl. sogar ein „Subjekt“ oder „Objekt“ identifiziert hat, ein „irgendwie“ für ein Adverb und ein angehängtes „-ieren“, wenn ein „Verb“ erkannt wurde.
So kann man Verständnislücken zunächst überbrücken. Oft ergibt sich dann der Sinn des Ganzen viel leichter. Probier es mal aus!

… übrigens: Ja, Wilusch semantelt, Wango semantles und Mirate mouge !

Alle Lernenden haben vielfältige Ressourcen, auf die sie zurückgreifen können. Die Fähigkeit, das eigene Wissen und Können umfassend und gezielt zu nutzen, erhöht nicht nur das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sondern auch die Motivation, die eigenen Kompetenzen weiter auszubauen. Das Optimierte Erschließen nach dem EuroCom-Ansatz ermöglicht schnelle Erfolge beim Erwerb (vermeintlich) unbekannter Sprachen.

oha!

Wissen gezielt nutzen

Strategien und Techniken

Sprachenlernen fällt dort besonders leicht, wo sprachliche Verwandtschaften bestehen. EuroCom nutzt die Gemeinsamkeiten nahverwandter Sprachen systematisch, um das bereits vorhandene Wissen gezielt zu aktivieren und neu zu organisieren. So kann es effizienter und lernökonomischer genutzt werden als in herkömmlichen Lernsettings.

Für die Interkomprehension in den romanischen Sprachen sind gute Kenntnisse in einer der romanischen Sprachen besonders hilfreich, denn das Konzept basiert auf dem gezielten Rückgriff auf das vorhandene Wissen und Können, also auf dem Transfer des bereits Gelernten auf neue Kontexte und Lernsituationen. Aber auch das Deutsche und Englische haben viele Gemeinsamkeiten mit den romanischen Sprachen, insbesondere im Wortschatz.

Interkomprehensive Herangehensweisen erleichtern den Umgang mit anderen Sprachen und Kulturen. Durch die Erschließungsstrategien wird das (Wieder-) Erkennen von Sinn- und Formeinheiten in anderen Sprachen vereinfacht; durch die Bewusstmachung des eigenen Wissens und Könnens einerseits und das Nutzen der sprachlichen Gemeinsamkeiten und Korrespondenzen andererseits wird das Erschließen von Texten deutlich erleichtert und beschleunigt. Sog. metakognitive Strategien verbessern zudem die Verarbeitung sprachlichen Wissens und den Lernprozess. Die Techniken und Strategien des Optimierten Erschließens unterstützen dieses sprachenvernetzende Arbeiten.

Versuche doch einmal, dich aus einer mehrsprachigen Perspektive mit dem Deutschen auseinanderzusetzen:

 

A. Die folgenden Wörter wurden aus dem Deutschen ins Russische entlehnt. Kannst du sie erkennen? 

рюкзак - ландшафт - автобан

Rucksack - Landschaft - Autobahn

B. Weißt du, aus welcher Sprache das Deutsche die folgenden Wörter entlehnt hat?

Zucker - Giraffe - Matratze - Mokka - Giraffe - Safari

So sehen die Wörter in ihrer Originalsprache aus:

سفر - صفة - مخا - مِطْرَح - زرافة - سكر

Hier sieht man, dass die geschriebene Sprache keine Hilfe ist, wenn man die Schriftzeichen nicht kennt. Gesprochen kann man die Wörter, die man aus dem Deutschen kennt, aber wiedererkennen.
Im Wortschatz des Deutschen finden sich viele Wörter aus den verschiedensten Sprachen.

Überlege: Welche Wörter kennst du, die das Deutsche übernommen hat, z. B. aus dem Französischen, Englischen oder aus anderen Sprachen?

Trage sie in dein Logbuch ein!

 

Die Übung hat gezeigt, dass die geschriebene Sprache nicht immer eine Hilfe ist. Aber auch wenn man die Schriftzeichen nicht kennt, kann man bekannte Wörter manchmal in der gesprochenen Sprache wiedererkennen. In andern Fällen ist es gerade umgekehrt, und Wörter sind leichter über die geschriebene Sprache wiederzuerkennen als über die gesprochene Sprache, wenn man zum Beispiel die Aussprachekonventionen nicht kennt oder sich die Aussprache weit von der geschriebenen Sprache entfernt hat, etwa im Französischen.

Lern- und Lesetechniken

Das Fundament des EuroCom-Konzepts ist das Leseverstehen, unmittelbar damit verknüpft ist das Hörverstehen. Auf dieser Grundlage können schnell weitere Kompetenzen erworben werden, z.B. das Sprechen oder Schreiben in einer bestimmten romanischen Sprache. Beim Lesen in neuen Sprachen greifen mehrere Prozesse ineinander; dazu gehören sprach- und lesebezogene, aber auch allgemeine kognitive Prozesse. „Sie ermöglichen es dem Leser, Bedeutungen zu konstruieren und das Wissen, das wiederum für das Verstehen gebraucht wird, zusammenzusetzen“ (Ehlers, 1998, 185).
Alle vorhandenen Könnens- und Wissensressourcen interagieren bei diesen Prozessen miteinander; ein bewusster und zielgerichteter Umgang mit ihnen erleichtert und beschleunigt das Sprachenlernen.

Bei EuroCom steht das Entschlüsseln sprachlicher Zeichen in Kombination mit der Entnahme von Informationen und dem Spracherwerb im Vordergrund. Damit gewinnen die Strategien an Bedeutung, die sich auf den Erschließungsprozess als solchen beziehen.

Wenn du mehr wissen möchtest, wie das vor sich geht, kannst du hier weiterlesen:

Bei der Begegnung mit (vermeintlich) unbekannten sprachlichen Phänomenen werden komplexe Prozesse im Gehirn angestoßen. Nach dem Gießener Interkomprehensionsmodell (Meissner, 2004) beginnt die mentale Verarbeitung mit der Bildung einer sog. Spontan- oder Hypothesengrammatik, die sich mit jedem weiteren Arbeitsschritt weiterentwickelt. Sie wird im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und spiegelt wider, was beim Erschließen (wieder)erkannt und ersten Mustern zugeordnet werden konnte. Dieses spontan konstruierte Wissen und die damit verbundenen Lernerfahrungen können im sog. Mehrsprachenspeicher gespeichert werden und bleiben dann im Langzeitgedächtnis verfügbar.
Dann werden im sog. Didaktischen Monitor das aufgebaute Wissen und die Lernerfahrungen gesammelt und die Informationen miteinander abgeglichen (Monitoring). Dies ist die Grundlage für die Speicherung der lernrelevanten Informationen. Die Zugriffswege werden durch Übung zunehmend automatisiert, Lernende können dadurch schneller und effektiver darauf zugreifen. Das gilt insbesondere für das sog. interlinguale, also das zwischensprachliche Transferpotential.

Bei alledem wird fortwährend die Sprachen- und Sprachlernbewusstheit ausgebaut, die als Fundament für die vernetzenden Verarbeitungsroutinen effektiven (Mehr-)Sprachenlernens anzusehen ist. Die Sensibilisierung für die vielfältigen Aspekte von Sprache(n) und ihren Gebrauch ist ein wichtiger Aspekt des Mehrsprachenlernens: Auch bezüglich der Erst-/Mutter- bzw. Umgebungssprachen kann man Neugier dafür entwickeln, wie sie funktionieren und ihre Strukturen entdecken - dabei werden zugleich sprachliche Kompetenzen und kognitive Fähigkeiten trainiert. Wird gezielt damit gearbeitet, indem beispielsweise der Zugriff auf den Fremdwortschatz trainiert wird, erhöht dies die sog. mentale Aktivierung. Dadurch werden Zugriffsprozesse bei der Sprachverarbeitung beschleunigt, das sprachenvernetzende Arbeiten unterstützt und das Lernen erleichtert.

Verschiedene ,klassische' Lern- und Lesetechniken sind auch bei der interkomprehensiven Erschließungsarbeit hilfreich und können je nach persönlichem Bedarf eingesetzt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Techniken des thematischen brainstormings vor dem eigentlichen Lesen, des wiederholten Lesens, des lauten Lesens, des Hervorhebens und Unterstreichens, des Sammelns von Schlüsselwörtern, aber auch Visualisierungen, um das Gelernte noch einmal zusammenzufassen. Probiere aus, welche Technik dir am besten hilft!

Neben den Lesetechniken unterscheidet man auch sog. Lesestile wie das suchende, orientierende, kursorische, totale oder das argumentative Lesen (Lutjeharms, 2004). Sie werden von der Leseabsicht bestimmt. Bei EuroCom steht nicht das Lesen als solches im Vordergrund, sondern zunächst das inhaltliche Verstehen. Es geht hier also um das Entschlüsseln der sprachlichen Zeichen in Kombination mit der Informationsentnahme, außerdem um Spracherwerb. Damit gewinnen im Vergleich zum herkömmlichen Sprachenlernen die Strategien an Bedeutung, die sich auf den eigentlichen Erschließungsprozess beziehen.

Hypothesen aufstellen

Beim Optimierten Erschließen kann man das gesamte Wissen und Können einsetzen, zum Beispiel auch all das, was man über das Funktionieren von Sprachen weiß. So kann man z. B. ausgehend vom Französischen eine ganze Reihe von typischen Erscheinungen in anderen romanischen Sprachen (wieder-)erkennen.
Du kannst solche Elemente aus den verschiedenen Texten mit deinen Brückensprachen vergleichen und Vermutungen über das Funktionieren der einzelnen romanischen Sprachen aufstellen. Mit jedem neuen Text, den du liest, kannst du neue Hypothesen aufstellen. Mit diesen sog. Hypothesengrammatiken kann man die Sprachen noch besser vergleichen und über das Entdeckte nachdenken.

Beim Aufstellen von Hypothesen werden die neuen Informationen besser verarbeitet, mit dem vorhandenen Wissen verknüpft und schließlich auch besser im Gedächtnis behalten.

Jeder Lerner nutzt unterschiedliche Lösungswege, um einen Text zu verstehen — je nach Lernerpersönlichkeit und individuellen Vorlieben funktionieren einzelne Lösungswege besser oder schlechter (mehr dazu im Kapitel zur Lernerautonomie). Probiere aus, welches Vorgehen am besten zu dir passt!

Unsere Checkliste fasst die wesentlichen Punkte des Optimierten Erschließens zusammen. Damit hast du einen Überblick über die wichtigsten Tipps und Tricks. Schau sie dir an! 

¡vaya!