Sprachen vernetzen

Transferressourcen

Schon Aristoteles hat es auf den Punkt gebracht: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das gilt auch für die Mehrsprachigkeitskompetenz, denn „Mehrsprachigkeit“ ist deutlich mehr als die schlichte Summe der Kenntnisse in einzelnen Sprachen; gerade die Beziehungen und Interaktionen zwischen ihnen und über sie hinweg machen das Ganze, die Mehrsprachigkeitskompetenz, aus.

EuroCom fördert mit seiner sprachenvernetzenden Vorgehensweise und der Bewusstmachung vielfältiger Phänomene die Aktivierung vorhandener Wissensreservoire, die häufig beim Sprachenlernen ungenutzt bleiben. Die vorgelernten Sprachen sind beim interkomprehensiven Sprachenerwerb besonders wichtig. Je nach individuellem Repertoire verfügen Lernende über unterschiedliche sprachliche Ressourcen, die sie zum Erschließen unbekannter Sprachen nutzen können. 

Auch Fähigkeiten, wie die Sprache in verschiedenen Kontexten einordnen oder die Mimik und Gestik eines Gesprächspartners deuten zu können, sind neben den sprachbezogenen weitere wichtige Ressourcen, aus denen bei der Spracharbeit geschöpft werden kann (Doyé, 2005).

Internationalismen, das Weltwissen und die sog. Brückensprachen spielen für das sprachenvernetzende Lernen eine besondere Rolle: 

Die erst-/muttersprachlichen Kenntnisse im Deutschen stellen für deutschsprachige Lernende romanischer Sprachen eine weitere wichtige Wissensressource dar - auch wenn das Deutsche nicht zu dieser Sprachenfamilie gehört. Denn bereits das Wissen um das Funktionieren und die Strukturen einer Sprache stellt ein Wissensreservoir dar, das für das sprachenvernetzende Lernen eingesetzt werden kann.
Erwachsene verfügen über einen umfassenden Wortschatz, der mehrere Tausend sog. internationale Wörter enthält, also solche, die in verschiedenen Sprachen vorkommen und verständlich sind. Beispiele für internationale Wörter sind Hotel, Tourismus und Demokratie. 
Wahrscheinlich fallen dir noch einige andere Wörter ein, die in verschiedenen Sprachen ähnlich oder sogar gleich sind. Du siehst: Du verfügst bereits über ein großes Reservoir, aus dem du beim Erschließen anderer Sprachen schöpfen kannst!

Daher steht am Anfang des interkomprehensiven Arbeitens eine Sensibilisierung für die Potentiale des individuellen Vorwissens, das sich auch aus den Kenntnissen und Erfahrungen mit der Erst-/Muttersprache zusammensetzt. Vieles davon kann auf andere Sprachen übertragen und angewendet werden. Besonders eignet sich hier der Fremdwortschatz im Deutschen. Probiere es einmal aus:

 

Findest du die Fremdwörter zu folgenden Begriffen im Deutschen?

Verteidigung Grundlage Wasserglätte fortschrittlich
= Defensive


Überlege kurz, wie du vorgegangen bist.

Diese kleine Übung regt zum innersprachlichen, intralingualen, Vergleich an. Die Wörter sind aber auch in allen romanischen Sprachen wiederzufinden und zu verstehen. Vielleicht hast du bei der Suche auch an das Englische oder eine andere Sprache gedacht, in der du die Wörter kennst? - Das ist der erste Schritt zum interlingualen Vergleich und zum Transfer!

Mehr Informationen und Aktivitäten zu den internationalen Wörtern findest du im ersten der Sieben Siebe.

 

Das enzyklopädische Wissen, auch Allgemein- oder Weltwissen genannt, kann in verschiedenen Phasen des erschließenden Lesens das Textverständnis erleichtern. Es kann zunächst beim Einstieg helfen, um den Kontext eines Textes zu identifizieren und sich so eine ungefähre Vorstellung vom möglichen Inhalt eines Textes zu erahnen. So werden Erwartungen an den Text ausgebildet, die später zur Überprüfung der Plausibilität des Erschließungsergebnisses beitragen können.

Dazu gehören ganz unterschiedliche Wissensbereiche; so können auch Kenntnisse des gemeinsamen europäischen soziokulturellen Kontexts oder des griechisch-römischen und christlichen europäischen Kulturerbes das Verständnis von Texten erleichtern, ebenso die Kenntnisse um kommunikative und interkulturelle Konventionen.

Zugleich kann das Allgemeinwissen konkret bei der Entschlüsselung unbekannter Wörter helfen. Auch wenn der Lerner bei der Erschließung von der Wortebene ausgeht und seinen Fokus auf die Form legt, also beispielsweise anhand der Wortendung auf die Wortart schließt, können das Weltwissen und die Erwartungshaltung an den Text das Konstruieren von Sinn und damit letztlich das Leseverstehen unterstützen.

 

Das Sprachenwissen mit den konkreten Kenntnissen um Elemente, Funktionieren und Strukturen einer Sprache stellt eine wichtige Transferressource dar. Zu ihnen gehören sowohl Wissen und Können in Erst-/Muttersprache(n) als auch in allen weiteren, zum Beispiel formal in der Schule, erlernten Sprachen.

Die sog. Brückensprachen haben besonders viele Gemeinsamkeiten, weil sie i. d. R. derselben Sprachenfamilie angehören, also nahverwandt sind. So kann das Russische beispielsweise den Zugang zu den slawischen Sprachen erleichtern, für die Gruppe der germanischen Sprachen kann neben Englischkenntnissen jede andere germanische Sprache, etwa das Niederländische oder auch das Deutsche, besonders gut als Brücke dienen. Unsere Nachbarsprache Französisch ist am besten als Brückensprache zu den romanischen Sprachen geeignet, aber auch alle anderen Mitglieder der Sprachenfamilie bieten großes Potential für das interkomprehensive Arbeiten.
Auch Englischkenntnisse sind für die romanische Interkomprehension sehr nützlich; als ,verhinderte romanische Sprache', die aufgrund ihrer (sprach)geschichtlichen Entwicklung in vielen Bereichen wesentlich vom Französischen beeinflusst wurde, stellt auch das Englische eine gut geeignete Brückensprache zur romanischen Sprachenfamilie dar (vgl. Klein/Reissner 2006). Aber auch das Wissen und Können in jeder anderen Sprache kann das Erschließen erleichtern, auch Familien-/Herkunftssprachen sind dafür von Bedeutung.
Schließlich bietet auch das in der Schule vermittelte Latein zahlreiche Anknüpfungspunkte zu den modernen romanischen Sprachen. Hier gibt es mehr Informationen zu Latein und den romanischen Sprachen.

Für die romanische Sprachfamilie stellen die "Sieben Siebe" (Klein/Stegmann 2000) die Phänomene und Elemente zusammen, die die verschiedenen Sprachen miteinander teilen. Die Systematisierungen machen die sprachlichen Verbindungen sichtbar und damit effektiv und lernökonomisch nutzbar für das sprachenvernetzende Lernen. Sie erleichtern das Erschließen und Verstehen und fördern das Sprachenlernen an sich. Im Trainingsraum zu den Sieben Sieben kannst du mit vielen praktischen Beispielen die romanischen Sprachen entdecken und deine Mehrsprachigkeitskompetenz ausbauen!

Nicht zuletzt die verschiedenen Richtungen der Transferaktivitäten, die sich innerhalb der einzel-oder zielsprachlichen Systeme (intralingual) oder zwischen den verschiedenen Sprachen (interlingual) vollziehen, zeigen die Komplexität des Transferprozesses.
Der Transfer kann in ganz unterschiedlichen Bereichen vor sich gehen, dabei kann Wissen über die Form, den Inhalt oder auch die Funktion einzelner Elemente übertragen werden; er kann sich aber auch auf pragmatische, also auf das sprachliche Handeln bezogene Aspekte beziehen oder auch auf didaktische, also das Lernen betreffende Elemente (Meissner 2004).

Generell gilt, dass es sich bei allen Überlegungen zu den Transferressourcen jeweils um die potentiellen Ressourcen handelt, also diejenigen, die sich theoretisch für einen Transfer eignen. Wie umfangreich sie sind, hängt vor allem von den (Sprachlern-)Erfahrungen des einzelnen Lernenden ab. Ob und inwieweit sie konkret für die Erschließungsarbeit und den zwischensprachlichen Transfer genutzt werden können, ist von vielfältigen Faktoren abhängig, in erster Linie von den individuellen Lern- und mentalen Zugriffswegen und der Disponibilität der Wissensreservoire, also, inwieweit die Ressourcen auch tatsächlich für die betreffende Person abrufbar sind.

en avant!