Die sprachenpolitische Perspektive

Mehrsprachigkeit und Interkomprehension

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen und Kulturen (GER) hat 2001 richtungsweisend Mehrsprachigkeit definiert als…
[…] die Fähigkeit, Sprachen zum Zweck der Kommunikation zu benutzen und sich an interkultureller Interaktion zu beteiligen, wobei ein Mensch als gesellschaftlich Handelnder verstanden wird, der über – graduell unterschiedliche – Kompetenzen in mehreren Sprachen und über Erfahrungen mit mehreren Kulturen verfügt (S. 163)
[…] Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren. (S. 17)
Daneben wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um "graduell unterschiedliche Kompetenzen in mehreren Sprachen" (ebenda) handelt, es wird also keineswegs vorausgesetzt, dass man in allen Sprachen ,perfekt‘ ist.

Die Deskriptoren des GER 2001 beziehen sich auf die verschiedenen Kompetenzbereiche innerhalb einer einzelnen Sprache. Ausgehend von einem kommunikativ- und handlungsorientierten Konzept beschreibt der GER 2001 Sprachwissen, Sprachfertigkeiten und Sprachanwendung auf sechs Niveaustufen. Dabei werden die kommunikativen Kompetenzbereiche Lese- und Hörverstehen – die sog. rezeptiven Kompetenzen – sowie Sprechen und Schreiben, die sog. produktiven Kompetenzen, unterschieden. Durch diese bei Einführung des GER neuartige klare Differenzierung rücken die einzelnen Kompetenzbereiche deutlicher in den Fokus; sie können differenziert bewertet und damit ausdrücklich wertgeschätzt werden. Diese Form der Kompetenzdifferenzierung stellte eine der zentralen Neuerungen des GER dar, die sich europaweit im Zuge der Handlungsorientierung des Sprachenunterrichts in allen Bildungsbereichen durchgesetzt hat.

Auch wenn der GER bereits 2001 die Mehrsprachigkeitskompetenz definiert hat, wird die sprachenübergreifende Dimension der kommunikativen Kompetenz erst in dem 2018 erschienen Begleitband zum GER (Europarat 2020) konkret berücksichtigt. Hier werden die Konzepte der plurilingualen und der plurikulturellen Kompetenz weiterentwickelt und in Form von sechs neuen Skalen und ihren Deskriptoren operationalisiert. Unter anderem werden dabei auch die Mediation (ib.,122-125) sowie innerhalb der kommunikativen Kompetenzen auch die der mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz (ib., 157-161) mit Deskriptoren beschrieben und messbar gemacht (sog. Operationalisierung).

Die Pluralen Ansätze und die Interkomprehension

Auch der Referenzrahmen für Plurale Ansätze (RePA, Candelier et al. 2007) ist für das Mehrsprachenlernen von Bedeutung. Er versteht sich als Ergänzung des GER und des Europäischen Sprachenportfolios und umfasst sprachenübergreifende Deskriptoren von Kompetenzen, die während mehrsprachiger Reflexions- und Handlungsprozesse entwickelt werden, also in allen Lernsettings, die mehr als eine Sprache umfassen.
Die Deskriptoren beschreiben die Ressourcen des mehrsprachigen Arbeitens in den Bereichen deklaratives Wissen (savoir), persönlichkeitsbezogenes (savoir-être) und prozedurales Wissen (savoir-faire), das transversal für alle Sprachen und Kulturen und die Beziehungen zwischen ihnen gilt. Viele der RePA-Deskriptoren sind auch für das interkomprehensive Arbeiten einschlägig.

Wenn du mehr über die Desriptoren des RePA wissen möchtest, schau auf den Seiten des Europäischen Zentrums für moderne Fremdsprachen des Europarates: https://carap.ecml.at  

Interkomprehension (IC) und Interkomprehensionskompetenz

Allgemein wird IC definiert als die Fähigkeit, in einer Gruppe von Sprachen kommunizieren zu können, die einen gemeinsamen Ursprung haben und die man nicht formal gelernt haben muss, um sie zu verstehen.
Die Interkomprehensionskompetenz ist als integraler Bestandteil der kommunikativen Mehrsprachigkeitskompetenz zu sehen, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen einer Person beitragen und in der alle verfügbaren Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren (GER 2001,17).

In der Theorie wird unterschieden zwischen rezeptiver und interaktionaler Interkomprehensionskompetenz, je nachdem, ob es (nur) um das Verstehen – von gesprochenen oder geschriebenen Texten – oder (auch) darum geht, aktiv mit Anderssprachigen zu kommunizieren (Ollivier & Strasser, 2016). In beiden Fällen stehen sprachliche bzw. sprachbezogene sowie kognitive Fähigkeiten und Kenntnisse im Zentrum, das Verstehenbildet aber immer den unverzichtbaren Kern. Allerdings unterscheiden sich die weiteren Kompetenzbereiche je nach sprachlicher Aktivität: Bei der sprachlichen Produktion rücken neben den genannten linguistischen und kognitiven Kompetenzen auch die Einstellungen und Haltungen sowie der interkulturellen und auch diskursiven Kompetenzen der Lernenden deutlicher in den Vordergrund (Ollivier & Strasser 2016).
Der zwischensprachliche Transfer bildet den Kern der IC-Kompetenz. Dieser Bereich wird in herkömmlichen Lernsettings häufig allenfalls am Rande beachtet; deren einzelsprachlich ausgerichteter Fokus wird oft als Barriere für sprachenvernetzend ausgerichtete Lernansätze empfunden; tatsächlich aber können plurale Ansätze wie die IC auch den einzelsprachlichen Unterricht grundlegend bereichern und den Kompetenzzuwachs deutlich erweitern:  Interkomprehensive Verfahren sind kognitiv und metakognitiv ausgerichtet und erlauben den Aufbau einer umfassenderen Kompetenzbasis für das (Mehr-) Sprachenlernen. Die IC-Kompetenz unterscheidet sich insbesondere aufgrund der zwischensprachlichen und plurilingualen Lernprozesse von den beim herkömmlichen Sprachenlernen fokussierten Kompetenzbereichen und geht hier deutlich über den monolingual ausgerichteten Unterricht hinaus.